Leben nach der Ungewissheit
Christine Lindemann "funktioniert nicht mehr nach Klischees"/
Leidensweg längst nicht beendet
Quelle: Weser-Kurier vom 11.10.2001, Frank Schneller
Hamburg. Christine Lindemann hat sich verändert. Zwangsläufig. "Mein
Leben ist nicht mehr, wie es einmal war", sagt die ehemals beste deutsche
Handballtorfrau. "Tine", die oftmals und gerne auch als Fotomodell
eine gute Figur abgegeben hatte, musste ihre aktive Laufbahn beenden. Der Grund:
Pfeifersches Drüsenfieber. In einem Hamburger Restaurant spricht die 31-Jährige über die schwere Zeit, die Speisekarte indes interessiert sie kaum.
"Ich habe meinen Geschmackssinn verloren. "
Die Vorzeige-Handballerin, die sie gerne verkörperte, will und kann sie
nicht mehr sein. Ach funktioniere nicht mehr nach Klischees, sondern versuche so
zu leben, wie es in mein Leben passt. " Es ist mittlerweile ihr Alltag.
" Ich habe ein sehr schwaches Immunsystem. " Fieberschübe und
Herpesausbrüche sind die Folgen, ein späterer Nierenschaden ist nicht
ausgeschlossen,
Angesichts solcher Beeinträchtigungen ist die Diplom-Sportmanagerin
"froh, dass ich mittlerweile wieder in der Lage bin, über mehrere Stunden
am Stück einem Beruf nachzugehen". Danach sah es vor einem Jahr nicht aus.
Die Weltklassetorfrau, die einst mit Walle Bremen Titel sammelte und 1999 ins
Frauenhandballverrückte Dänemark zu den Profis von Randers gewechselt War,
fühlte sich ab August plötzlich matt, "ständig müde, durchgehend
schlapp und schläfrig". Ihre täglichen Aufenthaltsorte reduzierten sich
mehr und mehr auf Bett und Sporthalle. Schlafen, trainieren - und das, obwohl
der Puls schon beim Treppensteigen oft auf 200 anstieg. Wieder schlafen,
spielen. Wieder zurück ins Bett.
Im Tor quälte sich die fünfmalige deutsche Meisterin dank ihrer Routine
noch zu akzeptablen Leistungen. Zehn Minuten Auf wärmen vor jedem Spiel in
Randers mussten genügen, um in der besten Frauenhandballliga der Welt
mitzuhalten. "Mehr habe ich nicht verkraftet." Nach dem Sport aber war
sie nicht mehr im Stande, auch nur einkaufen zu gehen. Das erledigte Stefanie
Mehlbeck, die mit ihr in Randers spielte.
Niemand in diesem europäischen Spitzenklub indes nahm die Symptome der
Torhüterin ernst, Geschwollene Lymphknoten, hohes Fieber, katastrophale
Ausdauerwerte,
von der angegriffenen Leber schwarze Augenringe - all das beunruhigte die
medizinische Abteilung des Klubs nur wenig. Keine der durchgeführten
Untersuchungen zielte auf die Mononukleose-Infektion hin.
Auch die Ärzte des deutschen Nationalteams, in das Lindemann trotz
abnehmender Leistungsfähigkeit noch immer berufen wurde, fanden des Rätsels
Lösung nicht. Weil sie einen Zwei-Jahres-Vertrag in Randers unterzeichnet hatte
und nur in Dänemark krankenversichert war, konnte sich die "nervlich
völlig zerschlagene" Torhüterin auch nicht ohne weiteres in der Heimat
behandeln lassen. Im Oktober 2000 war sie am Ende: Ach habe meinen Trainer
angeschrien, dass es so nicht mehr weiterginge. Die haben gedacht, ich spinne
oder bin hysterisch." Lindemann setzte sich mit letzter Kraft nach
Deutschland ab.
Ihr zur Hilfe kam in dieser dramatischen Lage ausgerechnet eine
Ex-Handballerin. Petra Platen, Ex-Nationalspielerin von Bayer Leverkusen und
mittlerweile Medizinerin in Köln, stellte die entscheidende Diagnose:
Pfeiffersches Drüsenfieber. Nicht-Erfüllung ihres Vertrages, eingefrorene
Gehälter, Behandlung ohne Versicherungsschutz - in ihrer Verzweiflung nahm
Lindemann fortan alles in Kauf, um gegen die endlich enttarnte Krankheit
vorzugehen.
Der langwierige Heilungsprozess ist noch nicht abgeschlossen, wenngleich es
Lindemann deutlich besser geht. Mit Randers HK hat sie sich geeinigt, lebt heute
in der Lüneburger Heide und sondiert berufliche Angebote. Sportliche Offerten
deutscher Topclubs hat sie indes allesamt ausgeschlagen.
Immerhin: Ganz ohne sportliche Erfolge muss sie nicht auskommen. Nach
mühseligem Training bei den Leichtathleten ihres Heimatortes und einem auf
Beach-Handball ausgerichtetem Übungsprogramm holte sie sich im Sommer zwei
Titel: Sie wurde Vizeweltmeisterin und beste Torhüterin bei der Beach-WM sowie
norddeutsche Hochsprungmeisterin der Senioren - eine Bestätigung, dass sie
"kein halber Mensch" ist.
Christine Lindemann hat, während sie ihre Geschichte erzählt, einen Salat
und Mineralwasser serviert bekommen. Figurprobleme, scherzt sie, habe sie keine,
insofern habe der verlorene Geschmacksnerv auch etwas für sich, Darüber kann
sie sich selbst mehr amüsieren als ihr Gesprächspartner.
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